Fast vier Jahre nach dem Gerichtsurteil wegen des hundertfachen sexuellen Missbrauchs von Lügde sind immer noch nicht alle Opfer entschädigt. Bei einem Fall sei die «Sachverhaltsaufklärung» noch offen, drei Fälle lägen «mit Entscheidungsreife» beim zuständigen Gesundheitsministerium, drei weitere ruhten auf Wunsch der Antragsteller, teilte der zuständige Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) auf eine dpa-Anfrage mit.
Insgesamt seien 34 Anträge in NRW gestellt worden; weitere Anträge in Niedersachsen kämen dazu. Von den 34 NRW-Anträgen seien 16 bewilligt worden. In drei Fällen wurde die Heil- und Krankenbehandlung der Betroffenen mitfinanziert, in 13 Fällen bekamen die Opfer Entschädigungszahlungen. Insgesamt seien 146.000 Euro an Entschädigungen ausbezahlt worden, so der LWL.
In Lügde (Kreis Lippe) an der Grenze zu Niedersachsen waren über Jahre Kinder Opfer von schwerster sexueller Gewalt geworden. Das Landgericht Detmold hatte im September 2019 mehrere Täter zu hohen Haftstrafen mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.
Mehr als drei Jahre später - Ende 2022 - hatte der NRW-Landtag nach Medienberichten über schleppende Entschädigungs-Bewilligungen bereits über das Thema diskutiert und gefordert, die «Anträge so schnell wie möglich und mit der gebotenen Sorgfalt zu bescheiden».
Die schleppende Bearbeitung liege zum Teil auch an veralteten rechtlichen Rahmenbedingungen für Opferentschädigung in Deutschland, hatte NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) damals kritisiert. «Dass aber drei Jahre vergehen mussten, bis die Anträge entscheidungsreif bearbeitet werden konnten, das darf einfach nicht sein.» Das sei «schlicht inakzeptabel», hatte er gesagt. Er gehe davon aus, dass im ersten Quartal 2023 die noch verbliebenen Fälle «abgearbeitet sein müssen», hatte Laumann gefordert. Dieses Ziel ist nun bereits um fünf Monate verfehlt worden.
Zu den drei entscheidungsreifen Fällen beim NRW-Gesundheitsministerium sagte ein Ministeriumssprecher, zwei davon seien inzwischen entschieden. Bei dem dritten werde dies bis spätestens Mitte September passieren. Durch die zusätzliche Prüfungsdauer entstehe den Antragstellern kein Nachteil.
Einkommensunabhängige Entschädigungen liegen laut LWL monatlich zwischen 171 und 891 Euro. Bei besonders schweren Gesundheitsstörungen kann der Beitrag erhöht werden. Allerdings besteht ein Anspruch nach den gesetzlichen Grundlagen nur dann, wenn durch die Gewalttat eine dauerhafte Gesundheitsschädigung von mindestens 30 Prozent eingetreten ist, heißt es in einem Bericht des Gesundheitsministeriums von Ende April.
Teils seien Anträge abgewiesen worden, weil solche Schäden nicht nachgewiesen werden konnten, teils sei trotz zahlreicher Versuche kein Kontakt zu den Antragstellern zustande gekommen, in zwei Fällen seien Anträge auch zurückgenommen worden. Eine erneute Antragstellung sei dabei aber jederzeit möglich, so das Ministerium.
Das Ministerium werde zusammen mit den zuständigen Landschaftsverbänden die Erfahrungen aus dem Missbrauchskomplex Lügde aufarbeiten und bei einer bundesweiten Reform des Opferentschädigungsrechts einfließen lassen.