Die Lehrerin und ihr Kollege stehen am Berliner Ku'damm auf dem Gehweg gegenüber von der Gedächtniskirche, besprechen das Programm am Nachmittag und blicken gemeinsam auf ein Handy. «Da ist es passiert», schildert der 53-Jährige mit brüchiger Stimme am Freitag vor dem Landgericht Berlin. Im nächsten Moment steuerte von hinten ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit auf die Schulklasse aus Nordhessen zu. Der Wagen erfasste die Lehrerin, schleift sie mit, überrollt sie schließlich. Die 51-Jährige stirbt noch am Unfallort. «Es ist ein Zufall, dass ich noch da bin und sie nicht», sagt ihr Kollege gut acht Monate nach der Tat.
Angeklagt ist in dem Prozess ein 29-Jähriger. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Mord und versuchten Mord in 16 Fällen sowie gefährliche Körperverletzung vor. Der Deutsch-Armenier soll am 8. Juni 2022 mit einem Auto auf dem Kurfürstendamm (Ku'damm) und der Tauentzienstraße mit Absicht in Fußgängergruppen gefahren sein. Ihm sei dabei bewusst gewesen, dass es Todesopfer geben könnte. Das habe er billigend in Kauf genommen, so der Vorwurf.
Die hessische Schulklasse war am schwersten von der Todesfahrt betroffen. In sie war das Auto zuerst hineingefahren. Neben dem Lehrer wurden elf Schülerinnen und Schüler verletzt, viele lebensgefährlich. Auch eine 14-Jährige, die mit ihren Großeltern in Berlin zu Besuch war, gehörte zu den Betroffenen. Weitere Opfer waren eine 32-Jährige, die im siebten Monat schwanger war, sowie zwei 29 und 31 Jahre alte Männer.
Der Lehrer aus Hessen ist der erste Zeuge, der in dem Prozess vernommen worden ist. Nach den Plänen des Vorsitzenden Richters Thomas Groß soll er auch stellvertretend für die Schülerinnen und Schüler der 10. Klasse der Kaulbach-Schule in Bad Arolsen über die Folgen der Todesfahrt im Sommer 2022 berichten. «Das ist gut so», so der Lehrer mit belegter Stimme. Er habe sich für die Schüler als Sprecher angeboten. Mit einigen sei ein «unglaubliches Verhältnis» entstanden, das weit über das Normale hinausgehe. «Wir werden ein Leben lang verbunden bleiben.»
Der Zusammenhalt unter den Betroffenen sowie der ganzen Schule sei groß, berichtet der Familienvater. Stockend schilderte er die ersten Begegnungen mit den Schülerinnen und Schülern nach der Tat. Zu deren Abschlussfeier und Zeugnisausgabe sei er mit Rollator gegangen und teils an Treppen getragen worden. «Ich war fix und fertig», antwortete er unter Tränen auf die Frage von Richter Groß, wie diese Begegnung gewesen sei. «Es ist noch ein weiter Weg, das zu verarbeiten», so der 53-Jährige. Die gelte für alle Betroffenen.
Die Schülerinnen und Schüler hätten das Geschehen sehr unterschiedlich verarbeitet. «Ich weiß, dass sechs oder sieben richtige Probleme haben», sagte er. Bei anderen habe er das Gefühl, sie lebten seit dem Tag bewusster. «Eine, die leuchtet», so der Pädagoge emotional über eine Schülerin.
Der Familienvater erlitt unter anderem einen Schlüsselbein- und Beckenbruch. Auf rund drei Wochen in einem Berliner Krankenhaus mit zwei Operationen folgte eine monatelange Reha. «Ich musste alles neu lernen», schilderte der 53-Jährige. Inzwischen könne er wieder normal laufen, sogar wieder Gitarre spielen. «Ich hatte sehr gute Physiotherapeuten.»
Der Musiklehrer ist nach eigenen Angaben bis heute in psychologischer Betreuung. Schritt für Schritt hat er nach eigenen Angaben eine Liste abgearbeitet, um in den Alltag zurückzukehren. Seit vergangenen November sei er wieder als Lehrer an der Kaulbach-Schule tätig. Aber es werde nie wieder, wie es war, so der 53-Jährige. Zwei Dinge seien ihm nun wichtig: Es solle Mahnmale geben, die an die Tat erinnerten. Und: «Ich möchte mit dem Mann sprechen.»
Die Zentrale Anlaufstelle weiß von Überlegungen von Betroffenen, sich für einen Gedenkort in Berlin einzusetzen. Sie biete den Betroffenen ihre Unterstützung an, ihr Anliegen gegenüber der Verwaltung in Land und Bezirk anzubringen, teilte die Senatsjustizverwaltung auf Anfrage mit. Dort ist die Stelle angesiedelt, die das Hilfsangebot für Verletzte, Ersthelfende oder Augenzeugen koordiniert.
Der beschuldigte 29-Jährige ist in einem Krankenhaus des Maßregelvollzugs untergebracht. Die Staatsanwaltschaft strebt in einem sogenannten Sicherungsverfahren seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Der Mann soll in einem akut psychotischen Zustand gefahren sein und kann nach Angaben seines Verteidigers nichts zu der Tat sagen. Der Prozess soll am 20. Februar fortgesetzt werden.