Steigende Zahl der Kirchenaustritte in Hessen

An den Weihnachtsfeiertagen dürften die Kirchen wieder einmal voll sein. Doch das Bild ist nicht typisch für den Alltag, im Gegenteil: Tausende sind in diesem Jahr aus der Kirche ausgetreten. Tendenz steigend.
Kreuz auf Kirchturm
Der Mond steht im Morgenlicht hinter einem Kreuz auf einem Kirchturm. © Bernd Weißbrod/dpa/Symbolbild

An Heiligabend singen viele Menschen die alten Weihnachtslieder gern in festlich geschmückten Kirchen, vor Krippe und Weihnachtsbaum. An ganz normalen Sonntagen sind die Kirchen in der Regel deutlich leerer - und eine zunehmende Zahl von Menschen hat mit einem Kirchenaustritt den großen christlichen Kirchen auch in Hessen den Rücken gekehrt. Für die Kirchen bedeutet das für die kommenden Jahre auch Sparzwänge.

Ein Kirchenaustritt muss nicht begründet werden. Doch auf den beiden Frankfurter Vollversammlungen des Synodalen Wegs, des Reformprozesses der katholischen Kirche in Deutschland, sprachen Hauptamtliche und Laien immer wieder von dem massiven Vertrauensverlust etwa durch den Skandal sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen durch Priester und Kirchenmitarbeiter und seine jahrelange Vertuschung. Aber auch der Umgang mit sexuellen Minderheiten und die Sexualmoral wurden immer wieder als Motiv angeführt. Für beide großen Konfessionen dürfte auch der demografische Wandel und die Säkularisierung der Gesellschaft eine Rolle spielen: Menschen, die nur noch pro forma einer Kirche angehören, entscheiden sich, die Kirchensteuer zu sparen.

In diesem Jahr wurde einer dpa-Umfrage zufolge in Hessen eine Zunahme der Kirchenaustritte verzeichnet. So ist in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden die Zahl der Kirchenaustritte im Jahr 2022 deutlich gestiegen. Bis zum Herbst des laufenden Jahres wurden nach Angaben der Stadt bereits deutlich mehr als 3200 Austritte in Wiesbaden und den Vororten registriert. Im gesamten Jahr 2021 hatten sich 3095 Menschen zu dem Schritt entschieden.

Ähnlich war die Entwicklung in Frankfurt. Bis Anfang Dezember waren in der größten Stadt Hessens 8556 Menschen aus der Kirche ausgetreten. «Das sind bereits jetzt schon mehr als in den Vorjahren», sagte eine Sprecherin der Stadt. Fünf Jahre zuvor hatte die Zahl der Kirchenaustritte noch bei 4850 gelegen.

In Kassel gab es bis zum 15. Dezember dieses Jahres 2158 Kirchenaustritte. Im Vorjahr waren es einem Sprecher der Stadt zufolge 1995, im Jahr 2020 waren es 1386, 2019 demnach 1516 und 1347 im Jahr 2018. Auch in Hanau, Darmstadt, Marburg und anderen Städten gab es eine Zunahme.

Das Bistum Fulda sprach ebenfalls von einer weiterhin hohen Zahl an Austritten. Der Trend setze sich weiter fort, hieß es bei der Pressestelle; genaue Zahlen für dieses Jahr lägen derzeit noch nicht vor. Im Jahr 2021 waren im Bistum Fulda 5301 Katholiken aus der Kirche ausgetreten und damit so viele wie nie zuvor in einem Jahr.

Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) prognostiziert für dieses Jahr einen Mitgliederrückgang um 2,37 Prozent. Die Tendenz der Vorjahre setze sich fort, erklärte EKKW-Sprecherin Anja Berens. «Im Laufe des Jahres 2021 hat unsere Landeskirche rund 17.600 Gemeindeglieder verloren. Bis einschließlich Oktober dieses Jahres waren es weitere rund 14.800.» Insgesamt zählt die EKKW laut Sprecherin 734.757 Gemeindeglieder zum Stichtag 31. Oktober 2022.

«Der Rückgang an Gemeindemitgliedern zieht natürlich auch einen Rückgang an Kirchensteuern nach sich und erschwert es daher, unsere Aufgaben für die Menschen vor Ort wahrzunehmen», erläuterte Berens. Die EKKW schaue dem Rückgang aber nicht tatenlos zu, sondern begreife ihn als Herausforderung. «Angesichts schwindender Ressourcen stellen wir frühzeitig die Weichen, unter anderem in der Finanzplanung.» So sehe der Beschluss der jüngsten Herbstsynode vor, dass alle kirchlichen Ebenen eigenverantwortlich einen Teil zu Einsparungen beitragen.

Die Corona-Pandemie habe in vielerlei Hinsicht einen Innovationsschub für die Kirchen mit sich gebracht. Die radikale Unterbrechung vieler bisherigen Arbeitsfelder und Prozesse habe sie gezwungen, neue Wege für Verkündigung, Seelsorge, Diakonie und Bildung zu suchen. «Die Pandemie hat also neue Ideen und Angebote hervorgebracht und Veränderungen beschleunigt - vom Weihnachtsgottesdienst vor der Kirchentür bis zum Tauffest im Garten.» Mancherorts sei der Gottesdienstbesuch jedoch gesunken und auch manche Ehrenamtliche hätten sich zurückgezogen und ihr Engagement beendet.

Im katholischen Bistum Limburg liegt die genaue Statistik der Entwicklungen im Jahr 2022 erst im kommenden Sommer vor. «Klar ist allerdings, dass wir Mitglieder verlieren und dies bereits heute deutlich spüren», sagte Sprecher Stephan Schnelle. «Unter anderem spüren wir es daran, dass wir nicht an der Steigerung der Einkommen- und Lohnsteuer partizipieren.» In den vergangenen zehn Jahren sei die Lohnsteuer kräftig nach oben gegangen, die damit gekoppelte Kirchensteuer aber nur unwesentlich mitgestiegen. «Bereinigen wir diese Steigerung um die Inflation, so müssen wir festhalten, dass wir allein in den vergangenen fünf Jahren ein Sechstel der Kaufkraft verloren haben.» Dies schränke das Bistum heute in vielen Bereichen stark ein.

Die Diözese geht davon aus, dass sich der Effekt in den kommenden Jahren noch verschärfen wird, weil die «Babyboomer»-Jahrgänge in den Ruhestand gehen und damit weniger Steuern, also auch weniger Kirchensteuer, zahlen. Gleichzeitig verließen viele junge Menschen die Kirche. «Unser Finanzdezernent Thomas Frings ist sich sicher, dass sich dies wie ein Turbo negativ auf die Finanzen des Bistums Limburg auswirken wird», berichtet Sprecher Schnelle. «Für die Bewirtschaftung der Gebäude in der Diözese bedeutet dies, dass wir uns viele Gebäude finanziell einfach nicht mehr leisten können. Teilweise ist dies heute bereits der Fall.»

In der Corona-Pandemie haben viele Pfarreien nach Angaben des Bistums Limburg neue Formate und Wege zu den Menschen gefunden. «Wir sind aktuell dabei zu evaluieren und zu sichern, was in der Pandemie gut und was weniger gut gelaufen ist», erläutert Bistumssprecher Stephan Schnelle. «Was fest steht ist, dass der Gottesdienstbesuch eingebrochen ist. Wir werden über das Jahr verteilt nicht mehr die Gottesdienstzahlen haben wie vor der Pandemie.»

Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) mit ihren rund 1,4 Millionen Gläubigen prognostiziert für das laufende Jahr mit rund 25.000 Austritten, etwas mehr als 2021. Aktuelle Auswirkungen befürchtet sie im kommenden Jahr aber nicht. Die EKHN verfolge seit 2019 einen langfristigen Reformprozess. Die Ausgaben von derzeit rund 700 Millionen Euro müssten bis 2030 um strukturell um 140 Millionen Euro heruntergefahren werden, sagte ein Sprecher. Bis dahin solle die Zahl der Pfarrstellen von aktuell 1200 auf 950 reduziert werden.

Weihnachten aber dürfte die Entwicklung vom Anblick voller Kirchen überdeckt werden. «Angesichts der vielen Krisen haben die Menschen gewiss eine Sehnsucht nach Begegnung, Gemeinschaft, nach Vertrautem und einem stimmungsvollen Gottesdienst», so Berens. Auch der Limburger Bistumssprecher rechnete damit, «dass die Zahlen hoch sein werden und wir an die Jahre vor Lockdown und Pandemie anknüpfen können».

© dpa
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